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Verteidigung – Meine Disputation

Heute ist der 8. Juli – Es ist der Tag meiner Disputation und der Geburtstag eines Freundes. 

Seit dem Lockdown im März ist diese Disputation eine der ersten, die wieder in Präsenzform stattfindet. Anwesend sind alle sieben Kommissionsmitglieder. Eine kleine Anzahl an Gästen ist auch erlaubt. Das Ganze findet im großen Hörsaal der Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin statt. Mein Freund schaltet sich via Zoom dazu, so wie auch weitere Bekannte und Freunde. 

Ich trage eine blaue Stoffhose, einen dunkelblauen Blazer und ein graues T-Shirt auf dem Mini-Mouse zu sehen ist. Das ist Teil der Performance. Die Konvention muss in irgendeiner Form gebrochen werden, sage ich, als meine Schwester meine Kleiderwahl bemerkt. Und – dieser Stilbruch erinnert mich daran, dass auch die Pflicht Spaß machen sollte.

Ich habe meinen Vortrag über Lukas Bärfuss‘ Koala mehrfach geprobt. Ich habe viele Fragen und Themenfelder antizipiert und habe mich in verschiedene Diskurse eingelesen. Ich weiß von was ich spreche werde. Ich weiß auch, wie ich zu meiner Arbeit überleiten kann. Dort bin ich zu Hause. Ich bin gut vorbereitet.

Um zehn Uhr geht es los. Ich betrete den Hörsaal. Die Kommission hat bereits Platz genommen. Alle wahren Abstand. Der Hörsaal ist so gesehen voll. Ich begrüße meine Doktormutter und meinen Doktorvater. Ich nehme den Platz hinter dem Pult ein, richte mich innerlich auf und blättere nochmal durch mein Manuskript. Alle Seiten sind da. Eine Flasche Wasser steht in greifbarer Nähe. Ein Stift für das Notieren von Fragen liegt bereit. Die Kommissionsvorsitzende begrüßt alle Anwesenden. Sie führt mich ein und übergibt mir das Wort. Wie es das Protokoll fordert, begrüße auch ich alle und die Show kann beginnen. Zwanzig Minuten Vortrag und dann bis zu neunzig Minuten Fragen.

Ich schau auf mein Papier. Dort steht: Spurensuche Suizid. Umwegiges Erzählen in Lukas Bärfuss‘ Roman Koala. Lukas Bärfuss‘ 2014 erschienener Roman Koala führt in besonderer Weise eine Spurensuche vor. Aber statt dies vorzulesen, sage ich nichts. Meine Stimme schwingt klanglos zwischen lachen und weinen. Ich bleibe stumm, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Die Aufregung ist groß und hat sich in meinen Stimmbändern manifestiert. Ich schaue hoch und jedem Kommissionsmitglied in die Augen. Das dauert und ich sehe, wie sie erwartungsvoll warten, dass ich beginne. Doch ich kann nicht. Ich liebe diesen Vortrag, doch nun ist noch etwas anderes da, als nur meine Stimme, das mich abhält, mit dem Vortrag zu beginnen. Ungeduldig, oder vielleicht auch nervös, fangen die Zuschauer an, in den Reihen hin und her zu rutschen.

Dann ist es da. Etwas, das ich nicht erklären kann, aber meine Stimme beginnt wie von selbst, und ich sage: Sorrow conquers happiness. Ich mache eine Pause und sehe in erwartungsvolle Gesichter. Keiner weiß was jetzt kommt. Ich auch nicht. Und dann beginne ich die drei Worte zu singen. Sorrow conquers happiness. Ich finde eine einfache Melodie, die einem Ohrwurm gleicht und eine Dauerschleife eröffnet. Sorrow conquers happiness – erst leise, behutsam, Stimme und Melodie in Einklang bringend. Immer und immer wieder hole ich die Worte und Töne zu mir, betone sie achtsam, mit wechselnder Intensität oder Intonation. Lass sie leise klingen, anschwellen und abebben. Meine Stimme, am Anfang zittrig, hat sich nach ein paar Minuten gefangen und klingt nun selbstbewusst. Ich werde mutiger und lauter und stelle fest, die Worte und die Melodie haben eine Eigendynamik entwickelt. 

Noch kann ich es beenden, denke ich. Ich kann dies noch zu einem außergewöhnlichen Anfang werden lassen. Noch kann ich zurückkehren zu Bärfuss und meinem Vortrag über Umwege und Spuren. Aber es ist als wäre meine Stimme von der Spur nicht abzubringen. Als hätten sich die Umwege verselbstständigt. Wie ein Sog ziehen sich Worte und Melodie weiter. Das Ende ist immer bereits der Anfang. Das hatte ich nicht bedacht. Ich versuche mit einer theatralischen Geste der Schleife ein Ende zu setzen, aber es gelingt mir nicht. Statt einen Punkt zu setzen, beginnt es wie von selbst aufs Neue. Als hätte mich die Schleife bezwungen, wäre ich gefangen – ich frage mich nur: in sorrow oder happiness? Bei dem Gedanken ändert sich meine Stimme. Als würde sie lachen, schafft sie eine spontane Heiterkeit in der Intonation. Das finde ich lächerlich und kehre langsam zurück in eine Stille, die den Worten eine gewisse Melancholie verleiht. Dabei zwinkere ich meinem Freund zu, der aber, starr vor Schreck, keine Miene verzieht. 

Ich schau meinem restlichen Publikum ins Gesicht und bemerke auch hier Irritation und eine besondere Form der Aufmerksamkeit, die mir Mut macht. Ich behalte alle im Auge. Ob sie wissen, dass es sich hier um Ragnar Kjarttansson’s Performance God handelt? Während ich singe, reflektiere ich meine Wahl. Als Scherz hatte es angefangen. Als Möglichkeit die Akademie zu versuchen. Nun bin ich mitten drin und kann, da ich es begonnen habe, nicht mehr zurück. Ganz mechanisch singe ich weiter und immer weiter. Es wächst mir über den Kopf, denke ich. Mir wird heiß. Ich beginne zu schwitzen. Ich singe weiter. Happiness und sorrow bezwingen sich gegenseitig. Sorrow erobert happiness – ich bin zutiefst erschüttert. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Bin ich verrückt geworden? Verrückt ist nicht bescheuert, erinnere ich Herrndorfs Worte und fühle mich besser. Ich habe das hier nicht geplant. Es ist einfach passiert. Oder? Die Akademie hinsichtlich ihrer Konventionen und Hierarchien herauszufordern, das war ein Spiel. Ein Gedanke. Wie konnte der Gedanke bloß zur Realität werden? Ohne eine Antwort darauf zu haben, obsiegt aber plötzlich in meiner Stimme happiness über sorrow. Zwar fehlte mir die Bigband, die Kjartansson in seiner Performance begleitete, doch meine Stimme, laut und klar, wird immer kräftiger und schöner. Mehr noch: Sie hat Gewicht. Und mit jeder weiteren Schleife, die ich singe, wird sie raumgreifender und zerstreut meine Zweifel. Seit über dreißig Minuten trotzt meine Stimme den protokollarischen Anforderungen der Universität. Sie verlautbart meine Trauer wie auch meine Freude über das Ende und das Korsett dieser Form, der ich mich einige Jahre untergeordnete habe. Sie verteidigt mein Argument, dass Wissenschaft kreativ ist und nimmt dabei den Umweg über den Gesang. In dem Moment als ich mich frage, was ich aus diesem akademischen Suizid machen werde, stehen meine Doktormutter und mein Doktorvater gleichzeitig auf und fangen an zu klatschen. Wie erlöst verstumme ich mit dem Wort conquers und beende so stimmgewaltig und außerordentlich meine Laufbahn an der Universität.

Mein Freund lacht nun auch. Er klatscht und zeigt mir einen erhobenen Daumen. In seinem Gesicht aber spiegelt sich Rätsel und Sorge, als würde er sich fragen: Wie lässt sich dieser Mut als Kompetenz benoten?