Der Tag der deutschen Einheit jährt sich zum dreißigsten Mal. Heute ohne große Feste. Covid-19 bestimmt noch immer das Geschehen. Mit Beginn der kalten Jahreszeit umso mehr. Die Zahlen der Infizierten steigen. Das Wetter ist weiterhin herrlich und die Menschen treffen sich draußen. Die Gruppen sind eher groß als klein. Restaurants und Cafés sind voll, sowohl draußen als auch drinnen. So auch heute. Das Wetter ist spätsommerlich sonnig und warm. Die Menschen flanieren durch die Straßen und Parks, sitzen auf Picknickdecken oder in Cafés. Wir wollen auch einen Ausflug machen und ein bisschen das Flair der Stadt schnuppern. Aber, statt nach Mitte, haben wir uns Kreuzberg ausgesucht. Ob das einen Unterschied macht, frage ich mich.
Unsere älteste Tochter ist auf einem Geburtstag, die Jüngste demnach Einzelkind und möchte eine Freundin mitnehmen. Na klar – und auch das klappt. Wir fahren mit den Rädern zum Viktoriapark, um auf den Kreuzberg zu marschieren. Es ist ewig her, dass ich da war. Wir melden an, dass wir auf einen Berg wandern und bereits am Nollendorfplatz halten die Mädchen danach Ausschau. Der Anstieg der Katzbachstraße, die schräge Straße und die begradigten Eingänge lassen uns ahnen, dass wir bereits angekommen sind. Wir schließen die Räder ab und die Mädchen wetzen los, quer über die Wiesen; wir hinterher. Sie entdecken als erste den Wasserfall und beschließen seinem Gefälle zu folgen. Wir suchen einen sonnigen Platz auf einem Stein und setzen uns ans fallende Wasser. Sein Gemurmel und Plätschern übertönt die Stimmen und wir warten auf die Kinder. Dabei schweifen unsere Blicke zu den verschiedenen Menschen, die ebenfalls hier allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen Rast machen.
Ich beobachte eine Mutter, die ihre vermutlich fünfjährige Tochter nicht davon abhalten kann mit ihren Lederstiefeln ins Wasser zu steigen. Auf den Steinen des Wasserfalls herumkletternd, dauert es nicht lang bis auch der Rock nass ist. Die Mutter sieht müde aus aber der Entdeckungsdrang der Tochter lässt ihr wenig Pause. Das Kind klettert immer höher, lässt sich nichts sagen und blickt in die Weite, wenn ihre Mutter sie wegen der glitschigen Steine zur Vorsicht mahnt. Während ich den beiden folge, streift mein Blick immer wieder die beiden jungen Frauen, die braungebrannt, im Trägershirt, ihren coffee to go in der Sonne genießen. Ihr Gespräch wird unterbrochen als ein junger Schäferhund neben ihnen mit einem Stock im Maul vorbeitobt. Nass wie er ist, streift er die Schulter der einen Frau, die trotz der Nässe entzückt dem Hund nachschaut und die Begegnung mit ein paar Worten, die ich nicht verstehe, kommentiert. Der Hund gehört zu einem bärtigen jungen Mann, der mit einer Freundin in einiger Entfernung links neben uns sitzt. Der Duft ihres Joints weht in alle Richtungen. Sein Hund, dem er wahlweise auf deutsch oder englisch Anweisungen gibt, bringt, wie dressiert, unermüdlich den Stock wieder, den der Mann in den Tümpel vor ihm wirft. Manchmal lässt der Hund sich ablenken – von Kindern, auch unseren. Alle diejenigen, die seinen Weg kreuzen werden freudig angesprungen, als seien sie nur da, um mit ihm zu spielen. Sein Herrchen passt aber auf, und so schnell wie er kam, ist der Hund auch wieder im Wasserfall verschwunden und sucht erneut den Stock. Als eine junge Frau barfuß gekonnt den Wasserfall überquert, macht er gerade eine Pause und steht hechelnd seinem Herrchen gegenüber. Das scheint ein glücklicher Zufall, denn die Frau muss sich konzentrieren. Die Steine, die sie wählt, um den Wasserfall zu überqueren, befinden sich an der Kante und sind glatt. Aber sie schwebt fast hinüber. Sie sieht aus, als käme sie gerade aus einem Aschram in Indien. Auf der anderen Seit angekommen, setzt sie sich zu einem jungen, etwas dicklichem Mädchen in Jeans und bauchfreiem Pullover. Die hochgesteckten Dreadlocks der einen wirken wie ein Gegenentwurf zu den langen, geraden Haaren der anderen.
Mein Mann und ich wechseln drei Mal den Platz, weil die Sonne schnell wandert und die Steine bereits kälter sind, als man denkt. Am Ende sitzen wir auf einer Bank am Wegesrand und beobachten, wie die meisten Menschen schnaufend an uns vorbeilaufen. Fast haben sie den Gipfel erreicht. Irgendwann tauchen die Mädchen auch wieder auf. Wir wollen hoch zum Denkmal. Sie wollen mal in Ruhe was essen. Gut. Wir trennen uns wieder. Doch ich hole sie bald, denn wenn man schon auf einen Berg geht, dann sollte man auch den Gipfel erklimmen.
Das Nationaldenkmal von Schinkel steht auf einem Plateau, wovon man die Stadt überblicken kann. Der Wasserfall zum Fuße des Denkmals bildet eine Schneise, dessen Sichtachse von der Großbeerenstraße weitergeführt wird. Der Ausblick ist toll. Der Himmel wölbt sich groß über uns und wir können über die Baumwipfel sehen. Spannender ist aber, dass der Blick in die Weite schnell zurückkehrt und auf das fällt, was am Fuße des Denkmals vor sich geht. Ein wenig surreal ist die Stimmung hier am Nationaldenkmal für die Befreiungskriege. Es steht zentral und ragt streng ‘gen Himmel. Es selbst scheint aber niemanden zu interessieren. Anders als die Figuren des Denkmals, die über die Köpfe der Besucher hinwegschauen, konzentrieren sich diese auf sich selbst.
Überall auf den Stufen sitzen jungen Menschen in der Sonne. Auf der Westseite hat sich eine kleine Gruppe Capoeira-Tänzer und Tänzerinnen versammelt, die musizierend und chantend die Kampfkunst praktizieren. Leute stehen daneben und schauen zu, andere laufen vorbei. Wieder andere versuchen die Bewegungen nachzuahmen, manchen schauen nur auf die Stadt oder sind in ein Gespräch vertieft. Auf der Nordseite sitzt unter dem neugotischen Bauwerk ein Mann in Militärkleidung. Er trägt eine schwarze Maske und eine Fahne in der Hand. Die Meisten gehen an ihm vorbei, ignorieren ihn oder beäugen ihn nur aus dem Augenwinkel. Die Mädchen starren ihn an. Es geht etwas Beunruhigendes von ihm aus und ich frage mich, ob es daran liegt, dass er so gänzlich das bewegte Repertoire an Bildern, die dieser Ort gerade offenlegt, durchkreuzt. Er wirkt wie ein Anachronismus; ein Relikt aus einer abgelegten Zeit. Wie ein Soldat starrt er nach vorne. Irgendwie verschmilzt er mit dem Denkmal selbst. Wie eine der Figuren er – so scheint es zunächst – seine Besucher. Er fesselt die Aufmerksamkeit der Mädchen und ich frage sie, ob wir ihn ansprechen sollen. Ja, sagen sie, ohne ihre Augen von ihm anzuwenden. Auf einmal bewegt sich der Soldat. Er hat die schwarze Maske abgenommen, weil er raucht. Wir fragen ihn, was das für eine Fahne ist. Es ist die historische Fahne des Kaiserreichs Abessinien mit dem Löwen Judas. Die Worte purzeln aus ihm heraus, als wäre die Frage längst überfällig und die Antwort schon lange bereit, ausgesprochen zu werden. Aus ihm spricht eine Leidenschaft für etwas, was mir nicht klar wird. Den Mädchen auch nicht. Er ist nicht zu verstehen. Aber er lächelt und entblößt dabei seine braunen Zähne. Der obere Vorderzahn fehlt, so dass der untere – ihm gegenüberliegende Zahn – in diese Lücken gewachsen zu sein scheint. Dieser umgedrehte Hasenzahn fällt als Erstes auf und das fehlende Stück an seinem linken Ohr. Und dann sind da noch seine Geschichtskenntnisse, die uns entgegenrollen. Obwohl wir keine Fragen mehr stellen, hört er nicht zu erzählen auf und als er von den Befreiungskriegen über den Tag der deutschen Einheit bei seiner Tochter landet, verabschieden wir uns.
Wir verlassen diesen Ort, der so voll ist. Die Frau, dessen Kind ins Wasser stieg, ist bereits weg. Ebenso der Mann mit dem Hund, der zwei Sprachen verstand. Die beiden Frauen mit ihrem coffee to go haben sich etwas übergezogen und umklammern mit den Händen ihre leeren Becher als wäre ihnen kalt geworden. Und ich muss den Mädchen folgen, die den Berg hinunterrasen.
Die Bilder meiner Beobachtungen gehen mir nicht aus dem Kopf. Auf dem Fahrrad hängen sie mir nach, wie der Fahrtwind, der mich berührt ohne mich berührt zu haben. Die Beobachtungen haben Gedanken losgetreten und ich fahre ein Stück schneller. Bei jeder Ampel stelle ich mir die Frage, wer diese Leute wohl sind, wie sie leben, wie ihre Wohnung riecht, ob sie Klimaaktivisten sind, social-media Freaks, was sie denken über die gegenwärtigen Maßnahmen, die gerade wieder angezogen werden. Gehören sie zu den Gruppen Jugendlichen, die sich treffen und Corona-Parties feiern? Sind sie auf den Friday-for-Future Demonstrationen gewesen? Kaufen sie in Bio-Läden ein? Posten sie auf Instagram? Was denken sie über TikTok? .. Ist das Neugier?
Ich denke an Michel Foucault und seine Überlegungen zu Other Spaces. In dem 1967 geschriebenen Aufsatz bezeichnet er unsere Epoche als eine der Gleichzeitigkeit, des Nebeneinanders, der Nähe und Ferne, einer sich Seite-an-Seite befindenden. Foucault spricht hier von Heterotopien – Räumen, die Unterschiede und Ungleichartigkeiten vereinen und folglich verschiedene Zeitlichkeiten einbeziehen.
Hier auf dem Kreuzberg vereint sich ganz ungezwungen die Gegenwart mit der Vergangenheit. Der Tag der Deutschen Einheit ordnet sich Corona unter und beides trifft auf das Denkmal der Befreiungskriege. Das 21. Jahrhundert nähert sich aus der Ferne der Reflexion des 19. Jahrhunderts. Wie weit reicht das Erbe dieser Zeit, das Gedächtnis dieser Epoche ins Jetzt, frage ich mich flüchtig. Ernst Bloch führte 1935 in seinem Buch Erbschaft dieser Zeit den Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ ein. Als zentrale Erkenntnis fasste er zusammen, dass nicht alle Menschen im selben Jetzt da sind. Wie die Gegenwart von jemandem wahrgenommen wird, so Bloch, ist abhängig von der ‚Klasse‘, der er entstammt aber auch, wie Räumlichkeit auf ihn oder sie eingewirkt haben. Der Arbeiter steht woanders als der Bildungsbürger und der Bauer woanders als der Soldat. Auffällig wie die Frau keine Kategorie bildet.
Heute sprechen wir nicht mehr von Klassen. Die Markierung dieser Erbschaft ist mit dem zweiten Weltkrieg gehörig zerrüttet, verschüttet und zerstört worden. Klasse ist ein Ordnungsprinzip. Im Tag der Deutschen Einheit hallt beides nach – der Zweite Weltkrieg und der Klassenkampf. Was also bestimmt heute unser Jetzt? Was ordnet unser in-der-Gegenwart-sein? Was ist das für ein Tag der Deutschen Einheit heute und jetzt?
Als wir auf dem Rückweg durch den Gleisdreieckpark fahren, addieren sich zu den Bildern, die mich bereits beschäftigen, weitere Bilder. Beobachtungen von entferntem Nebeneinander und gesuchter Nähe. Wir machen eine kurze Rast bei der Skateanlage, wo gerade Jungs auf BMX-Rädern Kunststücke machen. Es ist ein Showmaking, das beeindruckt und von den Fahrern, die vermutlich keine vierzehn sind, dauerhaft mit dem Ausruf „Ey digger, wie cool war das denn“ kommentiert wird. Der Park ist wie ein Schaulaufen denke ich, das bei den Fitnessanlagen weitergeht. Vor allem Männer mit gestählten Muskeln performen Klimmzüge, dass es schwer ist den Kopf abzuwenden. Ob es an der Performance liegt oder an der Neugier, wann die Kraft erschöpft ist, kann ich nicht sagen. Zwischen den vor Schweiß glänzenden Muskeln turnen Kinder, unsere auch, machen Schweinebaumeln und spielen Fangen. Erwachsenen sitzen in Gruppen in der Sonne und trinken Bier, andere beobachten ihre Kleinkinder im Sandkasten oder stehen in Habachtstellung daneben, weil ihre Jüngsten die ersten Versuche mit dem Laufrad machen. Als wir einen Biergarten betreten wollen, um ein Eis zu essen, müssen wir uns anmelden, Masken aufsetzen und die Hände desinfizieren. Das wirkt irgendwie aufgesetzt Anbetracht dessen, dass überall sonst weder Masken getragen noch Abstand gehalten wird. Der Biergarten ist groß und wir finden einen Platz, aber nur für kurze Zeit, weil wir uns dann auf den Rückweg machen. Die Sonne verschwindet hinter den Häusern und es wird kühler. Wir fahren durch den Tiergarten zurück.
Wir lassen am nächsten Tag am Frühstückstisch den Ausflug und seine verschiedenen Eindrücke revue passieren. Es wird viel gesagt, diskutiert und analysiert. Es ist dieser Satz meines Mannes, der hängenbleibt: Gestern erschien mir unsere Wohnung wie ein großer Schutzraum.
Die Wohnung ist hell und lichtdurchflutet, die Altbaudecken hoch. Unser Blick aus dem großen Doppelkastenfenster fällt auf die Baulücke, wo vor ein paar Wochen der Fünfzigerjahre-Bau abgerissen wurde und nun ein Neubau entstehen wird.