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Taube und Krähe

Bewegung ist ein Wort, das mir in regelmäßigen Abständen durch den Kopf surrt. Wir brauchen, wo jetzt alles stillsteht, Bewegung, denke ich. Also schnapp ich mir meine jüngste Tochter und überrede sie, einen kleinen Spaziergang mit mir zu machen. Ich locke mit den Worten: Wir werden schon etwas Spannendes entdecken. Vielleicht finden wir einen tollen Stein auf der Straße. Mit Widerstand kommt sie mit, und wir gehen los.

Window-Shopping interessiert sie nicht. Sie will lieber mit dem Seil hüpfen oder Bälle schmeißen. Also gehen wir Richtung TU Gelände, da gibt es mehrere große Flächen und vielleicht sogar Eichhörnchen oder Marienkäferlarven. Die große Straße, die wir dorthin überqueren müssen, ist durch einen Mittelstreifen getrennt und wir bleiben dort stehen, weil Autos kommen. Wir fixieren den Bus, der noch vorbeifahren soll; dann könnten wir gehen. Dabei fällt uns aber eine Taube ins Auge. Sie steht auf der Straße und sie müsste wegfliegen, wenn sie nicht unter die Räder kommen will. Sie fliegt nicht, sie hüpft nur. Der Bus kommt näher, geradewegs auf sie zu. Sie fliegt immer noch nicht, und der Bus weicht nicht aus. Sie hopst, und ich drehe gerade noch den Kopf meiner Tochter weg, um selber aber zu sehen, wie sie überfahren werden könnte. Doch der Bus streift sie nur; verletzt wird sie trotzdem. Das war sie in irgendeiner Form schon vorher. Wir stehen weiter auf dem Mittelstreifen, weil hinter dem Bus weitere Autos folgen, und wir hoffen beide, dass die Taube sich nun endlich Richtung Bürgersteig bewegt und nicht das eintrifft, was soeben hätte passieren können. Aber die Taube bleibt mühsam hopsend auf der Fahrbahn stehen. Die Autos weichen aus. Das beruhigt uns. Als wir eigentlich die Straße überqueren könnten, bleiben wir stehen. Die Dramaturgie des Schauspiels steigt und bannt uns auf den Zuschauerplatz in der ersten Reihe. Denn plötzlich hat sich ein weiterer Vogel zur Taube gesellt. Erst auf den zweiten Blick erkennen wir eine Krähe, die, so unser Eindruck, die Taube von der Fahrbahn zu scheuchen versucht. Rettung denken wir – wie toll ist das! Je länger wir aber zuschauen, desto klarer wird, dass die Krähe genau das Gegenteil tut. Sie versucht die Taube weiter in die Mitte der Straße zu bewegen. Indem sie auf sie zu hopst, sie schubst, mit dem Schnabel nach ihr hackt, hochfliegt und mit den Krallen nach ihr greift, nötigt sie die Taube sich zu bewegen. Die Richtung ist die verkehrte.

Das Schauspiel ist grausam und wir stehen wie verzaubert und schauen zu. Wir sollten gehen, denke ich. Oder wegschauen, denn, während der Verkehr weiter fließt, ist es nur eine Frage der Zeit, dass vor unseren Augen die Taube entweder von einem Auto überfahren oder von der Krähe getötet wird.